Zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom Donnerstag (9. April), zum PIP-Skandal den Europäischen Gerichtshof (EuGH) anzurufen, erklärt der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Jürgen Graalmann:
„Für die Patientinnen bedeutet die Überweisung des Verfahrens an den EuGH, dass sie weiter auf eine Entschädigung warten müssen. Das ist sehr bedauerlich. Wir hoffen, dass durch den EuGH dann Klarheit geschaffen wird. Natürlich ist die Frage wichtig, ob der TÜV Rheinland bei seiner Zertifizierung nicht genau genug war, aber genauso wichtig ist, wie die Marktzugangsregeln und die Kontrollen verbessert werden können. Der PIP-Skandal hat gezeigt, dass der Schutz der Patienten vor fehlerhaften Medizinprodukten in Europa viel zu lasch ist.
Auf EU-Ebene wird an einer Medizinprodukteverordnung gearbeitet, die das bestehende Medizinprodukterecht reformieren soll. Wir haben uns in Sachen Patientenschutz klar für eine zentrale Zulassungsbehörde ausgesprochen. Das fordert übrigens auch der Sachverständigenrat. Stattdessen soll es weiterhin bei den rund 80 offiziell „benannte Stellen“ bleiben: Das sind kleinere oder größere Firmen, die von den Medizinprodukte-Herstellern frei ausgewählt und dann auch noch von diesen bezahlt werden. Da liegt es nahe, dass wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen und der Patientenschutz mehr oder weniger auf der Strecke bleibt. Eine unabhängige Prüfung sieht anders aus.
Wenn man an den benannten Stellen festhält, dann muss wenigstens sichergestellt sein, dass sie unabhängig arbeiten können. Der TÜV-Rheinland hat seine Tätigkeit eindeutig zu serviceorientiert für die Unternehmen verstanden. Dies wird aus den Dokumenten deutlich, die in französischen Gerichtsverfahren gegen den TÜV Rheinland vorlagen. Kontrolleure sollen aber nicht den Firmen als ihren Kunden hinterherlaufen.
Außerdem müssen die Kontrolleure ausreichend qualifiziert sein, um die Prüfungen vornehmen zu können. Im Fall von PIP hatte der TÜV Rheinland Mitarbeiter beauftragt, die für den Bereich Niedrigspannung zuständig waren, jedoch nicht auf Medizinprodukte spezialisiert waren. Es muss auch mehr Kontrollen vor Ort geben, um Machenschaften wie bei PIP schnell auf die Spur zu kommen, die illegal billiges verunreinigtes Industriesilikon für die Implantate verwendet hatten.
Wir brauchen bessere klinische Studien als Zulassungsvoraussetzung. Dann hätte man bereits im Vorfeld erkannt, dass die Membranen der Implantate von PIP viel zu dünn waren und reißen konnten. Es liegen auch Zahlen vor, wonach viel mehr Silikon durch die Membranen ins Brustgewebe gelangte, als die Grenzwerte vorsahen, selbst wenn diese nicht gerissen sind. Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA hatte die Probleme erkannt und für die USA auch nie eine Zulassung erteilt. PIP war dort bereits im Jahr 2000 bei einer Prüfung mit Brustimplantaten aufgefallen, die mit Kochsalz gefüllt waren. Warum muten wir Patienten in Europa zu, dass massenhaft ungeprüfte Medizinprodukte implantiert werden, und zwei Jahre später stellt man fest, dass die gar nicht geeignet waren?
Zusätzlich braucht es eine obligatorische Haftpflichtversicherung für alle Hersteller von Hochrisiko-Medizinprodukten. Die Firma PIP ist inzwischen Pleite gegangen und kann den geschädigten Frauen weder Schadensersatz noch Schmerzensgeld bezahlen. Patienten müssen auch über die Insolvenz der Firmen hinaus entschädigt werden können. Dafür kann eine Haftpflichtversicherung sorgen, welche die Unternehmen freiwillig aber kaum abschließen.
Wir müssen jetzt endlich aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Nach der Contergan-Tragödie in den 1960-ern wurden die Arzneimittelgesetze verschärft und ein strenges Verfahren zur Prüfung, Zulassung und Erfassung neuer Medikamente eingeführt. Das war für Millionen Menschen ein überaus wichtiger Schritt in Richtung Medikamentensicherheit. Auch nach dem PIP-Skandal 2012 wurde versprochen, Patienten besser zu schützen. Aber noch ist nichts passiert. Das darf so nicht bleiben.“